In den vorhergehenden Kapiteln ist beschrieben worden, welche Institutionen und Personen im „­Hiltruper Modell“ zusammenarbeiten. In diesem Kapitel soll gefragt werden, warum diese Zusammenarbeit im „­Hiltruper Modell“ funktioniert und was die beteiligten Personen miteinander verbindet.

Unterhält man sich dazu mit den bis heute aktiv mitarbeitenden Gründungsmitgliedern des Vereins „­Jugendhilfe Direkt e.V.“ und mit der beim Verein angestellten Diplom-Sozialpädagogin, dann werden die Grundeinstellungen sichtbar, die das Engagement über so viele Jahre nicht haben erlahmen lassen. Es handelt sich um humanitäre christlich grundierte Einstellungen, von denen die Motivation und Bereitschaft getragen wird, etwas für die Verbesserung der Berufs- und Lebenschancen von Hauptschüler/innen zu tun. Praktisch heißt das, dass die aktiv mitarbeitenden Vereinsmitglieder und die beim Verein angestellte Diplom-Sozialpädagogin nicht nur ihr berufliches Wissen und ihre beruflichen Erfahrungen, sondern auch ihre persönlichen Kompetenzen einbringen. Mit den persönlichen Kompetenzen sind Engagementbereitschaft, Einfallsreichtum und Nachdenklichkeit gemeint, die aktiviert werden, wenn es darum geht, die Hauptschüler/innen in jeder Hinsicht zu fördern und in ihrem Streben nach Selbstständigkeit zu bestärken.

Auch wenn die genannten Grundeinstellungen vor allem bei den Verantwortlichen des Vereins und als Berufsethos bei der Diplom-Sozialpädagogin eine Rolle spielen, besteht eine besondere Engagementbereitschaft auch bei dem Leiter und der Lehrerschaft der Hauptschule Hiltrup sowie dem zuständigen Berufsberater der Agentur für Arbeit Münster. Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen die Schüler/innen der Hauptschule Hiltrup. Sie sind die eigentlichen Subjekte, deretwegen das „­Hiltruper Modell“ überhaupt existiert. Die Stärke des „­Hiltruper Modell“ beruht daher auf der den Basispartnern gemeinsamen Bereitschaft, dafür nicht nur das Allernötigste, sondern möglichst viel zu tun.

Eine besondere wie auch immer motivierte Engagementbereitschaft kann aber auch bei den Netzwerkpartnern vorausgesetzt werden. Insbesondere bei den Netzwerkpartnern in den gewerblichen, kaufmännischen und Dienstleistungsbetrieben ist das alles andere als selbstverständlich. Sie sind bereit, Hauptschüler/innen, die bei vielen als schwierig, uninteressiert und unzuverlässig gelten, in den laufenden Betrieb hereinzunehmen, obwohl sie das gar nicht müssten. Sie sind also bereit, zusätzliche Energien zu investieren, ohne zu wissen, was dabei herauskommt. Bei den Mitarbeiter/innen der Jugendzentren, mit denen ständig zusammengearbeitet wird, gehört die Orientierung an den Bedürfnissen der Jugendlichen zu den beruflichen Kompetenzen und ist soziale Engagementbereitschaft ein Teil des beruflichen Ethos. Jugendzentren bieten ganz allgemein ein breites Spektrum frei wählbarer Betätigungsmöglichkeiten an. Die niedrige Zugangsschwelle in Jugendzentren schließt bewusste erzieherische Einflussnahmen mit ein. Auf die Einhaltung von Geboten und Verboten sowie von Regeln des sozialen Umgangs wird nachdrücklich geachtet. Das ist nicht anders als in der Arbeitswelt, wo sogenannte Soft Skills oder Sozialkompetenzen vorausgesetzt werden.

Für die Hauptschüler/innen werden in den Jugendzentren spezielle Arbeitseinheiten an den PCs und spezielle Trainings wie zum Beispiel „Find a Job“ angeboten. Ebenfalls angeboten werden auch spezielle Verhaltenstrainings für den Erwerb angemessener Verhaltensweisen. Hierbei geht es um den Erwerb derjenigen sprachlichen und körperlichen Ausdrucks- und Umgangsfähigkeiten, die sowohl in der Arbeitswelt als auch im öffentlichen Leben üblich sind. Häufig, wenn es um das Lernen am PC und um das Einüben angemessener Verhaltensweisen geht, wird mit Jungen und Mädchen in getrennten Gruppen gearbeitet, weil geschlechtsspezifische Denk- und Verhaltensweisen zu beachten sind, was nur in geschlechtsspezifisch homogenen Gruppen optimal gelingt.

Bedürfnisorientierung und Engagementbereitschaft gelten auch in denjenigen Einrichtungen, in denen es um psychologische oder medizinische oder soziale Einzelfallhilfe geht. Hier wird nicht nur diagnostiziert und bei Bedarf therapiert, sondern hier spielen Einzelgespräche über längere Zeit eine ebenso wichtige Rolle. Die ernsthafte und menschenfreundliche Gesprächssituation lässt viele der Jugendlichen zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass sich wirklich jemand um ihre Probleme und Beschwernisse kümmert. Die Jugendlichen wagen es, ihre Probleme auszusprechen, lernen ihr Selbstwertgefühl zu verbessern und dadurch sich und ihre Umgebung mit neuen Augen zu sehen. In schwierigen Fällen können diese persönlichkeitsbildenden Hilfen von der in der Hauptschule tätigen bei „Jugendhilfe Direkt“ angestellten Diplom-Sozialpädagogin nur in eingeschränktem Maße geleistet werden. Andererseits würden ohne ihre Arbeit in der Schule und ohne ihre Begleitung die Schüler/innen, die eine längere Einzelfallbetreuung benötigen, ihren Weg zu den sozialen Diensten gar nicht finden.

In solchen Fällen, in denen therapeutische Hilfen nötig sind, ist es zwingend notwendig, dass die Zusammenarbeit zwischen der Diplom-Sozialpädagogin in der Hauptschule und dem Fachpersonal der anderen Einrichtungen wie selbstverständlich funktioniert. Nur dadurch ist gewährleistet, dass sich die Fachkräfte in den verschiedenen Einrichtungen gegenseitig ergänzen und die Jugendlichen nicht einfach von einer Stelle zur anderen geschickt werden.

Auf die anfangs gestellte Frage, warum und wie das „Hiltruper Modell“ funktioniert, lässt sich am Endes dieses Kapitels als Antwort festhalten: Diejenigen, die hier mitarbeiten, verbindet das persönliche Engagement, wirklich etwas zu tun, was die Hauptschüler/innen auf ihrem Weg hin zur Ausbildungsreife und in einen Ausbildungsberuf konkret weiterbringt. Sie sind bereit, etwas mehr von ihrem Arbeitsvermögen und ihrer Engagementbereitschaft herzugeben, als sie eigentlich müssten.

Was das im Einzelnen praktisch heißt, ist in diesem und den vorhergehenden Kapiteln beschrieben worden. Dabei sind auch die Gründe für den Erfolg des „Hiltruper Modells“ deutlich geworden. Grundlegend ist, dass die beim Verein „Jugendhilfe Direkt e.V.“ angestellte Diplom-Sozialpädagogin nicht nur in der Hauptschule arbeitet, sondern ständig im Netzwerk der Institutionen und Personen tätig ist. Dadurch gelingt es, die Praktika in den Betrieben, die Trainings in den Jugendzentren, die Einzelfallhilfe bei den sozialen Diensten, und die Arbeit mit den Jugendlichen in der Schule sowie die Mitarbeit im Wirtschaftslehreunterricht miteinander zu verbinden. Die Diplom-Sozialpädagogin sorgt dafür, dass die Lernerfahrungen der Jugendlichen an den verschiedenen Lernorten, in der Schule und außerhalb der Schule, einander ergänzen und sich gegenseitig bestärken.

WN 5. Mai 2005