Die Stabilität und die dauerhafte Wirksamkeit des „Hiltruper Modells“ beruht nicht allein auf der im vorhergehenden Kapitel beschriebenen Zusammenarbeit der sogenannten drei Basispartner. Darum herum ist im Laufe der Jahre ein verlässliches Netzwerk entstanden. Es besteht aus Unternehmen, das heißt Firmeninhaber/n/innen, Betriebsleiter/n/innen und Geschäftsleuten, die bereit sind, Praktikant/en/innen und Auszubildende, die aus der Hauptschule kommen, bei sich aufzunehmen. Zum anderen handelt es sich um Institutionen und Personen, die im sozialen Bereich tätig sind. Diese Partner/innen des „ Hiltruper Modells“ sind es auch, die den Gedanken der Unterstützung von Hauptschüler/n/innen an andere Geschäftspartner/innen und sozial eingestellte Personen weitergeben. Hier gibt es so etwas wie einen stillen Schneeballeffekt, der hoffentlich noch nicht an sein Ende gekommen ist.
Von den Partnern im Netzwerk des „Hiltruper Modells“ sind an erster Stelle die gewerblichen und die Dienstleistungsbetriebe zu nennen, die bereit sind, für drei Wochen einen oder eine Hauptschüler/in bei sich für das Schülerbetriebspraktikum aufzunehmen. Dieser Praktikums-Pool muss gepflegt werden und ständig muss nach neuen Plätzen Ausschau gehalten werden. In diese Arbeit investiert die Diplom-Sozialpädagogin viel Zeit und Kraft. Und während der Praktika steht sie den Firmeninhaber/n/innen und ihren Mitarbeiter/n/innen wie auch den Schüler/n/innen ständig für Gespräche zur Verfügung.
Ähnliches gilt für die Suche nach Ausbildungsplätzen und den Einstieg in die Berufsausbildung. Hier sind die Jugendlichen zwar weitgehend selbständig tätig, werden aber gleichzeitig bei der Auswahl der Stellen, die für sie in Frage kommen, und bei der Bewerbungsvorbereitung unterstützt. Ausführlich ist darauf bereits in Abschnitt 3.3 eingegangen worden. Gespräche der Diplom-Sozialpädagogin mit den Eltern auf den Elternsprechtagen und bei Elternbesuchen gehören mit dazu. Eine besondere Rolle spielt die Zusammenarbeit mit den Firmen BASF Coatings AG, H. Gautzsch Großhandel GmbH & Co KG, Elektro Heikes und anderen. Hier ist seit dem Jahr 1995 zwischen den Unternehmen und dem Verein „Jugendhilfe Direkt e.V.“ das Projekt „Brücke zum Beruf“ eingerichtet worden. Es handelt sich um ein berufspraktisches Jahr für solche Jugendliche, die sich beim Einstieg in eine Berufsausbildung besonders schwer tun. Sie bekommen in diesem berufspraktischen Jahr die Chance, die Kompetenzanforderungen des Berufslebens kennen zu lernen und die seitens der Betriebe von ihnen erwartete Ausbildungsreife zu erlangen. Dabei werden sie bei Bedarf fachunterrichtlich ( Rechnen und Schreiben ), sozialpädagogisch und berufsberatend begleitet. Bisher sind die meisten der Jugendlichen schließlich in eine Ausbildung übernommen worden oder haben in einer anderen Firma einen passenden Ausbildungsplatz gefunden. In schwierigen Fällen gelingt es immer wieder über eine Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme der Agentur für Arbeit Münster den Weg zu einem Ausbildungsplatz zu ebnen.
Inzwischen wird die Bezeichnung „Brücke zum Beruf“ auch von einer kürzlich aufgelegten ausbildungspolitischen Initiative verwendet. Es handelt sich um einen Projektverbund in der Region Münster (Initiative für Beschäftigung). Daran beteiligen sich Betriebe verschiedener Wirtschaftszweige sowie sogenannte Konzeptschulen, die Kammern des Handwerks und der Industrie, die Agentur für Arbeit Münster und die Stadt Münster.
Die spezielle Stärke des „Hiltruper Modells“ gegenüber diesem zeitlich befristeten Verbundprojekt besteht in seiner langfristigen kooperativen Stabilität, die auf Nachhaltigkeit hin angelegt ist. Diese Stabilität des „Hiltruper Modells“ beruht auf dem Netzwerk, das die drei Basispartner umgibt. Damit profitiert das „Hiltruper Modell“ auch von der in der Region Münster vorhandenen, überdurchschnittlich ausgebauten Infrastruktur, die für den Übergang von der Schule in den Beruf zur Verfügung steht. Ergänzend zu den schon Genannten gehören weitere Netzwerkpartner zum „Hiltruper Modell“. Sie lassen sich folgendermaßen charakterisieren.
Zum einen gibt es die privaten Bildungsträger, die Maßnahmen zur Berufsvorbereitung für Hauptschulabsolvent/en/innen durchführen. Von diesen Einrichtungen werden auch Maßnahmen zur außerbetrieblichen Berufsausbildung durchgeführt. Auftraggeber ist die Agentur für Arbeit Münster, die diese Maßnahmen konzipiert und finanziert.
Neben den Kooperationspartnern, die unmittelbar für die Berufsvorbereitung und Berufsausbildung tätig sind, gibt es die für Kinder und Jugendliche vorhandenen sozialen Betreuungseinrichtungen, mit denen ständig zusammengearbeitet wird. Es handelt sich um städtische, kirchliche und andere freie Jugendhilfeeinrichtungen.
Dazu gehören die Einrichtungen des städtischen Amtes für Kinder, Jugendliche und Familien wie das Jugendinformations- und Beratungszentrum (JIB) an der Hafenstraße, das Jugendzentrum Lorenz-Süd in Berg-Fidel, das Begegnungshaus 37 Grad in Hiltrup und das KOT (Kleine Offene Tür) St. Clemens in Hiltrup. Für die Hauptschüler/innen ab Klasse 5 und vor allem der Jahrgangsstufen 8, 9 und 10 sind diese Institutionen außerschulische Lernorte, an denen z. B. die Übermittagsbetreuung stattfindet, kostenloser Nachhilfeunterricht stattfindet und am PC gearbeitet wird. Weiterhin finden, ggf. unter Beteiligung des Berufsberaters, besondere Trainings zur Berufsorientierung statt.
Durch den Aufenthalt in den Jugendzentren werden die Schüler/innen aber auch herausgefordert, sich an den offenen Aktivitäten zusammen mit anderen Jugendlichen zu beteiligen. Für viele Hauptschüler/innen sind daher die Jugendzentren auch zu Orten geworden, an denen sie sich während ihrer Freizeit in Neigungsgruppen mit anderen zusammenfinden, ohne irgendwo „rumhängen“ zu müssen.
Für den Fall, dass einer oder eine von den Schüler/n/innen schwerwiegende persönliche Probleme hat, steht die Diplom-Sozialpädagogin mit den Einrichtungen für die ärztliche, psychologische oder soziale Einzelfallhilfe und -therapie in Verbindung. Das können der ärztliche und der psychologische Dienst der Agentur für Arbeit Münster sein oder der „Kommunale Soziale Dienst“ oder der „Verein für soziale Integration“. In Anspruch genommen werden in solchen Fällen die Drogenhilfe, das Mädchenkrisenhaus oder, im Falle von Straffälligkeit, die Bewährungshilfe. Die Zusammenarbeit mit den Trägern der Jugendhilfe, wie z. B. den Sozialen Diensten, dem Amt für Kinder Jugendliche und Familien und der Drogenberatung der Stadt Münster ist aber auch wegen der präventiven Maßnahmen und Kampagnen wichtig, die ebenfalls von diesen Einrichtungen durchgeführt werden z. B. im Bereich Kindeswohlgefährdung, Drogenmissbrauch, „Voll ist Out“, u. a.
Hervorzuheben ist die Zusammenarbeit mit dem Amt für Ausländerangelegenheiten. Der Bedarf an Begleitung und Beratung zu Fragen der Staatsangehörigkeit und des Rechtsstatus einzelner Jugendlicher und ihrer Familien mit Migrationshintergrund ist seit Verabschiedung des Einwanderungsgesetzes nicht geringer geworden!
Schließlich sind die Kontakte zu den Berufskollegs in Münster zu nennen. Berufskollegs sind eine relativ junge Einrichtung des Bildungswesens in Nordrhein-Westfalen. Sie sind daher wenig bekannt und werden, wie die Info-Broschüre der Stadt Münster schreibt, „oft als sehr unübersichtlich empfunden“ (S. 10). Für Hauptschulabgänger/innen mit und ohne Abschluss wäre es äußerst schwierig, sich hier allein, ohne fremde Hilfe, einen Überblick verschaffen zu wollen. Aufgrund ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit den Berufskollegs stehen daher die Diplom-Sozialpädagogin und der Berufsberater den Schüler/innen der Hauptschule als Lotsen zur Seite. Begleitet werden Schüler/innen, die entweder keinen Ausbildungsplatz gefunden haben oder ihre berufliche Zukunft über einen schulischen Weg erreichen wollen.
Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen bieten neben dem üblichen Berufsschulunterricht für Jugendliche eine Vielzahl von beruflichen und schulischen Bildungsgängen an. Diese Bildungsmöglichkeiten stehen sämtlichen Jugendlichen offen, die ihre Vollzeitschulpflicht beendet haben. Das heißt, die angebotenen Bildungsgänge sind so konstruiert, dass jeder Jugendliche, unabhängig davon ob er oder sie einen Schulabschluss hat oder aus welcher Schule er oder sie kommt, einen zu seiner oder ihrer Situation passenden Bildungsgang findet.
Auch für Hauptschulabgänger/innen mit oder ohne Abschluss sind die Bildungsgänge auf die Abschlüsse und Prüfungsnoten abgestimmt, die die Jugendlichen mitbringen. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, gilt in Münster:
In sämtlichen Bildungsgängen der Berufskollegs können Schulabschlüsse nachgeholt oder vorhandene aufgestockt werden. In den Bildungsgängen sind als vollwertige Bestandteile Unterrichts- und Lernblöcke enthalten, die der Berufsorientierung oder der Berufsgrundbildung dienen. Außerdem gibt es Bildungsgänge, die primär der Berufsausbildung dienen. In ihnen kann neben dem beruflichen Abschluss auch ein mittlerer Bildungsabschluss (Fachoberschulreife) erworben werden. In Münster sind es bis zu acht Berufsfelder, aus denen die ehemaligen Hauptschüler/innen das ihnen gemäße Berufsfeld auswählen können. In den Berufsfeldern sind Berufe aus dem gewerblichen und kaufmännischen Sektor, aus dem Sektor der sozialen Dienste sowie der Wirtschaft und Verwaltung enthalten.
Für die Hauptschüler/innen kommt es daher darauf an, in der Vielfalt der Bildungsgänge die ihren Fähigkeiten entsprechende Platzierung zu finden. Dabei profitieren sie davon, dass ihre Lotsen, die Diplom-Sozialpädagogin und der Berufsberater, sie mit ihren Stärken und Schwächen bereits über mehrere Jahre kennen.
Sämtliche Verbindungen mit den Kooperationspartnern, von denen hier die Rede war, werden von der Diplom-Sozialpädagogin wahrgenommen und gepflegt. Im Laufe der Jahre ist daraus ein locker geknüpftes zuverlässiges Netzwerk entstanden. Das kommt den Jugendlichen unmittelbar zugute. Sie profitieren auf zweierlei Art davon. Sie erfahren praktische Unterstützung und Anregung sowohl als Schüler/innen als auch für ihren weiteren Weg nach Beendigung der Schule. Aber nicht nur das! Die Jugendlichen machen gleichzeitig auch die Erfahrung, dass sie sich in einem sozialen Raum bewegen, in dem von Jahr zu Jahr ihre persönliche und berufliche Orientierungssicherheit zunimmt. Das führt sehr oft dazu, dass ehemalige Schüler/innen der Hauptschule Hiltrup sich gerne an die Zeit erinnern, als sie von der Diplom-Sozialpädagogin und dem Berufsberater begleitet wurden. Häufig fragen sie, die schon lange der Schule entwachsen sind, die beiden um Rat in einer aktuellen schwierigen Angelegenheit.
Das Netzwerk mit den Kooperationspartnern macht es möglich und erleichtert es, im Gebäude der Hauptschule Hiltrup in einem zweijährigen Rhythmus ein Berufsforum zu veranstalten. Es steht unter dem Motto, „Stell Dir vor, Du stellst Dich vor und keiner stellt Dich ein“. Das Forum wendet sich an die Schüler/innen ab der 8. Klasse und ihre Eltern. Auch Schüler/innen anderer Schulen können daran teilnehmen.
Im Rahmen des Berufsforums stellen Betriebe aus der Region dar, in welchen Berufen Mann oder Frau sich bei ihnen ausbilden lassen kann. Die Berufskollegs stellen die von ihnen angebotenen Berufsbildungsgänge für Hauptschüler/innen vor. Die Ausbildungsberater/innen der Industrie- und Handelskammer und der Handwerkskammer machen die Schüler/innen mit den außerbetrieblichen Ausbildungsgängen bekannt, die sie, von der Agentur für Arbeit Münster konzipiert, in deren Auftrag durchführen. Das Gleiche gilt für die anderen oben schon erwähnten privaten Bildungsträger, die im Auftrag der Agentur für Arbeit Münster die von ihr konzipierten und finanzierten berufsvorbereitenden Maßnahmen durchführen. Der am gleichen Tag stattfindende Elternsprechtag ist integraler Bestandteil des Berufsforums. Ein spezielles „Elterncoaching“ und „Bewerbungstraining“ gehören seit Neuestem zum Standardprogramm des Vereins Jugendhilfe Direkt und der Agentur für Arbeit Münster.
Für die Schüler/innen der Hauptschule Hiltrup gilt die Teilnahme am Berufsforum als Unterricht. Ihnen werden Erkundungsaufgaben gestellt. Sie müssen die Vertreter der Betriebe, der Berufskollegs, der Kammern und der anderen Träger zu den von ihnen angebotenen Ausbildungsgängen befragen und sich Informationsmaterial geben lassen. Die Auswertung geschieht dann an einem der folgenden Tage im Wirtschaftslehreunterricht. Hier präsentieren sie sich gegenseitig in kleinen Gruppen die Ergebnisse ihrer Erkundungen.
Ohne das in diesem Kapitel beschriebene institutionelle Netzwerk würde nicht nur das Berufsforum nicht zustande kommen, sondern das gesamte „Hiltruper Modell“ würde nicht existieren. Kurz und klar heißt das: Der Verein „Jugendhilfe Direkt e.V.“, die Hauptschule Hiltrup und die Berufsberatung der Agentur für Arbeit Münster bilden zusammen mit den institutionellen Netzwerkpartnern das „Hiltruper Modell“. Das lässt sich wie folgt darstellen.